Es hat 25 Grad draußen, es ist schwül, die Sonne scheint wolkenlos und Regen bleibt aus. Die Vögel singen überall und nahezu den ganzen Tag. Am Telefon frägt man mich bisweilen, ob ich am Waldrand wohne. Ich brauche mir keine „Vogelgezwitscher-CD“ zu kaufen, um mein „Gemüt zu beruhigen“ und „die Sinne zu schärfen“, oder die Seele zu entspannen – sie singt immer mit – wie soll es anders sein bei dieser allgemeinen Hintergrundberauschung: Stille bleibt ein unerfüllbarer Wunschzustand, wenn so viel Grün um einen her ist. Dabei sitze ich hier im Bahnhof, bei offenen Fenstern, und es gibt natürlich auch Motorenlärm und Bahnsteig-Geplappere.
Das ist nicht gerade das Wetter, um ans Bücherregal zu gehen und alte Lektüren in die Hand zu nehmen, und bei Beckett zu verweilen. Es stehen da immer noch Bücher von Beckett, die ich nicht gelesen habe. Eines ziehe ich heraus und fühle mich augenblicklich zurückversetzt an meine erste, mich elektrisierende Lektüre vor über: 35 Jahren, »Warten auf Godot«. Damals hatte ich die Angewohnheit, mir wichtig erscheinende Sätze anzustreichen. So etwas zum Beispiel:
Estragon: Was soll ich ihn fragen?
Wladimir: Warum er sein Gepäck nicht absetzt.
Estragon: Das frag ich mich auch.
Ein Buch von Bertrand Russell, »Warum ich kein Christ bin«, ist gar zur Hälfte gelb unterstrichen. Damals waren die wichtigen Fragen nach dem tieferen Sinn des Universums von gleich hohem Rang wie die Verehrung von schönen Mädchen; und das heißt für einen 16-Jährigen: alles.
Statt dieser welterforschenden Gefühle von einst stellte sich ein Unbehagen ein: ‚Warum überhaupt ein Buch in die Hand nehmen, und womöglich Stunden damit verbringen, am hellichten Tag? Vergeudete Zeit! Was haben mir die Lektüren von einst gebracht?‘